4.11.2016

Text: Elisabeth Strub-Madzar, übersetzt aus dem französischen von Monika Modersitzki

Der Quilt „Gizem” zog allein schon wegen seiner Größe alle Blicke auf sich.

Er stellte das Hauptwerk dar, daß für seine Erschafferin Elisabeth Strub-Madzar eine tiefe Bedeutung hat. Sie war mit ihrer türkischen Quiltgruppe Hayat Ağacı (Lebensbaum) aus Istanbul Gast der der 10. Gröbenzeller Quiltausstellung.

Elisabeth hat zu ihrem Quilt „Gizem” einen ausführlichen Text geschrieben, der von Monika Modersitzki übersetzt wurde:

Diese Arbeit wurde zur Erinnerung an Gizem Damla Tuǧtekin angefertigt, ein Mädchen, das 1999 im Alter von nur 16 Jahren verstarb. Mit ihrer Organspende hat sie das Leben von drei anderen Menschen verlängert: Pınar Demir, Eylem Taşdemir, Mirko Madzar. Ich wünsche mir, dass sich mit dem Betrachten des Werkes auch die Bereitschaft zur Organspende erhöht.

Dieses Stück wurde realisiert aus alten osmanischen Stoffen und Stickereien, die mit silber- und goldfarbenen Schussfäden gewebt sind, sowie aus handgewebten türkischen Stoffen Kutnu, Damast, Velour und Taft.

Unten an der „Pforte“, die den Tod symbolisiert, befindet sich die Erde, im Zentrum ist die Milchstraße, die durch die gestickten Sterne symbolisiert wird. Umgeben ist die Milchstraße vom Mond und der Sonne, welche die Dualitäten: Schatten - Licht, weiblich - männlich, gut - böse darstellen. Der Drache stellt die Kräfte des Bösen und die negative Macht dar.

Bei den Christen wird er von den Heiligen Georg und Michael überwältigt. Zümrüt-i Anka, der mythische Vogel, der Schönheit, Kraft und Fruchtbarkeit symbolisiert, vereinigt in sich die 30 Tugenden, die der Mensch aufweisen muss, um in das Paradies zu gelangen. Der mythische Vogel symbolisiert das Gute. All diese Elemente symbolisieren die Dualität, mit der der Mensch sein Leben lang auf der Erde konfrontiert ist. Die drei 5-zackigen Sterne symbolisieren die Trinität der drei göttlichen Kardinaltugenden: Glaube, Liebe, Barmherzigkeit.

Die Zahl 5 entspricht den 5 fundamentalen Pflichten der islamischen religiösen Praxis: das Glaubensbekenntnis, das Gebet, das Fasten, die Pilgerfahrt und das Almosengeben. Das tägliche Gebet ist 5 Mal am Tag zu verrichten, Fatimas Hand zeigt 5 Finger. In der christlichen Ikonographie bezieht sich die Zahl 5 auf die Anzahl der Wundmale Jesu Christi.

Das Pentagramm - der 5-zackige Stern soll schon vor 4000 Jahren in Mesopotamien aufgetaucht sein. Er ist ein altes Symbol der Harmonie, des Glücks und der Gesundheit, gebildet aus der Zahl 3: drei Spitzen sind das maskuline Prinzip, der Himmel, und die anderen zwei Spitzen sind das feminine Prinzip, die Erde.

In der esoterischen Tradition symbolisiert der 5-zackige Stern die Einheit des Menschen (Kopf, Beine, Arme) mit dem Mikrokosmos. Der Stern stellt die fünf Elemente Wasser, Feuer, Holz, Metall, Erde dar. Der 5-zackige Stern war das Attribut von Ischtar, die Göttin, die die Venus (den Abendstern) symbolisiert.

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Der im Zentrum stehende 10-zackige Stern symbolisiert den Übergang von Gizems Seele ins Jenseits; die weiße Farbe verkörpert ihre Reinheit und ihre Jugend. Die Zahl 10 symbolisiert Perfektion, Vollkommenheit und Totalität sowie die 10 Gebote, die Moses gegeben wurden.

Die sieben Farben, die von den Sternspitzen bis ins Zentrum des Sterns benutzt wurden, stellen die sieben himmlischen Welten dar, die im Koran und in der göttlichen Komödie von Dante zitiert werden.

Die Zahl 7 gliedert insbesondere die Entwicklung des Neulings hin zur Erleuchtung, Suche, Liebe, Wissen, Unabhängigkeit, Einheit, Mittellosigkeit. Im Islam symbolisiert die Zahl 7 Perfektion und man zählt sieben Himmel und sieben Erden. Die muslimischen Pilger umrunden die Kaaba siebenmal. Für die Christen gibt es die sieben Todsünden, sieben Gaben des Heiligen Geistes, sieben Tugenden und die sieben Sakramente in der katholischen Kirche. Am 7. Tag hat sich Gott von seiner Schöpfung ausgeruht.

Die bestickten Sterne an den Seiten symbolisieren Unendlichkeit. Im oberen Teil der Tür findet man die 5 Erzengel: Azrael, der die Seelen holt, Michael, der für das Gleichgewicht der Welt zwischen Natur und den Menschen verantwortlich ist, Gabriel, der Bote Gottes, begleitet von Raphael und Uriel, die das Horn in Sodom und Gomorrha ertönen ließen.

Die Blumen symbolisieren die Cherubim, die Schutzengel, die den Erzengeln zur Seite stehen. Die großen Blumen oben stellen die Gärten des Paradieses dar. Die Laterne am obersten Rand repräsentiert kandil, eine Laterne, die man in den Moscheen findet und die Öllampe, die in allen Kirchen verbreitet ist; sie zeigt die Gegenwart Gottes mit seinem Ewigen Licht.

Dieser Quilt verdeutlicht, dass der Mensch seine Vorstellungen durch die Religionen trennt, aber er zeigt auch, dass sich die Menschen alle ähnlich sind, und dass die Religionen sie vereinen und nicht trennen sollen.

„L‘ Arbre de Vie“ - 2002

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